3. Dezember 2012

FRESSEN UND GEFRESSEN WERDEN (Marios Märchenstunde Teil 1)


Hallo, liebe Kinder!

In dieser neuen Reihe lesen wir beliebte Märchen und beginnen mit "Hänsel und Gretel" (hier online) - einer zauberhaften Geschichte von Hungersnot, Kindesmisshandlung und Kannibalismus...







ERST KOMMT DAS FRESSEN

Eine schöne deutsche Tradition ist es, Kindern die berühmten und bezaubernden Märchen Grimms vorzulesen und sie damit in das süße Reich der Träume zu schicken.
Die heitere Erzählung "Hänsel und Gretel" beginnt mit der Entscheidung eines Ehepaares: Sollen sie ihre Kinder zum Sterben in den Wald schicken oder ihnen doch lieber beim Verhungern zusehen?
Klassische Disney-Familienunterhaltung also.

"Vor einem großen Walde wohnte ein armer Holzhacker, der hatte nichts zu beißen und zu brechen und kaum das tägliche Brot für seine Frau und seine zwei Kinder, Hänsel und Gretel. 
Endlich kam die Zeit, da konnte er auch das nicht schaffen und wusste keine Hülfe mehr für seine Not. 

Wie er sich nun abends vor Sorge im Bett herumwälzte, sprach seine Frau zu ihm: „Höre, Mann, morgen früh nimm die beiden Kinder, gib jedem noch ein Stückchen Brot, dann führ sie hinaus in den Wald, mitten hinein, wo er am dicksten ist, da mach ihnen ein Feuer an, dann geh weg und lass sie dort allein, wir können sie nicht länger ernähren." 
„Nein, Frau", sagte der Mann, „wie soll ich übers Herz bringen, meine eigenen lieben Kinder den wilden Tieren im Wald zu bringen, die würden sie bald zerrissen haben!" 
„Wenn du das nicht tust", sprach die Frau, „so müssen wir alle miteinander Hungers sterben." 

Dies ließ ihm keine Ruhe, bis er einwilligte."

(Hänsel und Gretel, Grimms "Kinder- und Hausmärchen", 1825)


Ich hasse es ja, immer den Klugscheißer spielen zu müssen... Na gut, ich geb's zu, das stimmt nicht, ich liebe es. Aber wenn der Wald nun von wilden Tieren nur so wimmelt und die Familie kurz vor dem Verhungern ist - könnte man da nicht eine Lösung finden, die beide Probleme gleichzeitig beseitigt?..

Die korrekte Antwort ist natürlich: Der Mann tötet die Tiere, bastelt sich aus deren Pelzen einen prächtigen Umhang, stolziert damit durch die Stadt und lenkt so den Bäcker ab, vielleicht mit einer kleinen Tanzdarbietung, während die Frau unterdessen ein paar Brote stibitzt. Doch auf so eine einfache und naheliegende Lösung kommt das Paar nicht.



SHUT UP WHEN YOU'RE TALKING TO ME

Die stereotyp-böse Stiefmutter gibt es in den Versionen, die in den ersten Ausgaben der "Kinder- und Hausmärchen" aus den Jahren 1812-1840 enthalten sind, noch nicht. Hier ist es noch die leibliche Mutter, die ihre Kinder wegschicken möchte. Der Vater ist der Sympathieträger der Story, da er sich zunächst gegen das Vorhaben sträubt - obwohl auch er keine Idee hat, wie er seine Kinder vor dem Hungertod bewahren soll und sich von seiner Frau schließlich doch dazu überreden lässt, seine Kinder im Wald auszusetzen.

Doch dies stellt sich als gar nicht so einfach heraus, wie man es erwarten können. Die Kinder haben nämlich das Gespräch mitangehört und sind vorgewarnt. Der clevere Hänsel denkt sich einen Plan aus und tröstet seine weinende Schwester liebevoll mit der Aufforderung, doch bitte mal die Fresse zu halten.

"Die zwei Kinder waren auch noch vor Hunger wach gewesen und hatten mit angehört, was die Mutter zum Vater gesagt hatte. 

Gretel dachte, nun ist es um mich geschehen, und fing erbärmlich an zu weinen, Hänsel aber sprach: „Sei still, Gretel, und gräme dich nicht, ich will uns schon helfen." 
Damit stand er auf, zog sein Röcklein an, machte die Untertüre auf und schlich hinaus. Da schien der Mond hell und die weißen Kieselsteine glänzten wie lauter Batzen. Hänsel bückte sich und steckte so viel in sein Rocktäschlein, als nur hinein wollten, dann ging er zurück ins Haus."


Am nächsten Tag macht die Familie einen Ausflug in den Wald. Heimlich markiert Hänsel jedoch den Weg mit den Kieselsteinen, so dass er später wieder zurückfindet. Warum die Kinder zunächst ahnungslos tun und sich aussetzen lassen, nur um direkt danach wieder umzukehren, ist mir nicht so ganz klar. Am sichersten wäre es doch gewesen, einfach im Haus zu bleiben, statt durch eine List heimzukehren, bei der viele Dinge schiefgehen können. Zum Beispiel hätten die Eltern, als ihre Kinder plötzlich unerwartet wieder vor ihrer Tür standen, einfach das Licht ausmachen können und so tun, als wären sie nicht da - so hätte ich es jedenfalls gemacht.



THE HISTORY BOOK ON THE SHELF

"Wie sie mitten in den Wald gekommen waren, sprach der Vater: „Nun sammelt Holz, ihr Kinder, ich will ein Feuer anmachen, dass wir nicht frieren." 

Hänsel und Gretel trugen Reisig zusammen, einen kleinen Berg hoch. Da steckten sie es an und wie die Flamme recht groß brannte, sagte die Mutter: „Nun legt euch ans Feuer und schlaft, wir wollen in dem Wald das Holz fällen; wartet, bis wir wieder kommen und euch abholen."

Hänsel und Gretel saßen bis Mittag an dem Feuer, da aß jedes sein Stücklein Brot; sie glaubten, der Vater wäre noch im Wald, weil sie die Schläge seiner Art horten, aber das war ein Ast, den er an einen Baum gebunden hatte und den der Wind hin und her schlug."

Da die Kinder keine Ahnung haben, wie sie nach Hause kommen sollen, zumindest soweit ihre Eltern das wissen, scheint die Täuschung mit der Axt unnötig und kostenaufwendig. So eine Axt ließe sie sicherlich für ein paar Brote verhökern. Doch die Axt wurde umsonst geopfert, da Hänsel und Gretel nachts den weißen Kieselsteinen folgen und nach Hause zurückkehren.




Die Mutter sagt: "Oh, da sind ja die Kinder, die wir ausgeset.. äh, verloren haben. Was für ein Glück. Hurraaa!" - meint es aber gar nicht so. Der Vater dagegen freut sich von Herzen.

"Da gingen sie die ganze Nacht durch und wie es Morgen war, kamen sie wieder bei ihres Vaters Haus an. 
Der Vater freute sich, als er seine Kinder wieder sah, denn es war ihm zu Herzen gegangen, wie er sie so allein gelassen hatte; die Mutter stellte sich auch, als wenn sie sich freute, heimlich aber war sie bös."


Fragt sich nur, warum der Vater so froh war. Immerhin befindet er sich jetzt wieder in exakt derselben aussichtslosen Lage, zwar mehrere Familienmitglieder, jedoch keine Nahrungsmittel zu besitzen. Der einzige Unterschied ist, dass er um eine Axt ärmer ist und seine Kinder um ein lebenslanges Trauma reicher.
Und es ist ja nicht so, als würde der Vater seine Tat derart bereuen, dass er ein für alle Male seine Lektion lernt - was man an den nächsten Szene sehen kann, in der er seine zwei Kinder erneut in einem Wald voll wilder Tiere aussetzt...



THE NIGHT IS DARK AND FULL OF TERRORS

Das Holzfäller-Paar hat zwar seine Kinder wieder, aber noch immer keine Nahrung - das genaue Gegenteil von dem, was die Eltern mit dem Aussetzen ihrer Kinder eigentlich erreichen wollten.

"Nicht lange danach war wieder kein Brot im Hause und Hänsel und Gretel hörten, wie abends die Mutter zum Vater sagte: „Einmal haben die Kinder den Weg zurückgefunden und da habe ich's gut sein lassen; aber jetzt ist wieder nichts, als nur noch ein halber Laib Brot im Haus, du musst sie morgen tiefer in den Wald führen, dass sie den Weg nicht zurück finden, es gibt sonst keine Hilfe mehr für uns." 

Dem Manne fiel es schwer aufs Herz und er dachte, es wäre doch besser, wenn du den letzten Bissen mit deinen Kindern teiltest; weil er es aber einmal getan hatte, so dürfte er nicht nein sagen." 

Eine recht merkwürdige moralische Verpflichtung scheint der Vater hier zu verspüren: Weil er ja schon ein mal seine Kinder ausgesetzt hatte, muss er jetzt wieder tun?

Die klügste Methode scheint ihm, exakt das gleiche wieder zu tun, was bei ersten Mal schon nicht funktioniert hatte.
Bei der gleichen Handlung unterschiedliche Ergebnisse erwarten, das ist laut Einstein die Definition von Weisheit. War es Weisheit? Ich weiß nicht so genau.
Jedenfalls beginnt der Vater mit demselben Fehler wie zuvor und plaudert munter über den genauen Termin der Kinderaussetzung - ohne vorher zu prüfen, ob die Bälger nicht vielleicht in Hörweite sind...

"Als die Kinder das Gespräch gehört hatten, stand Hänsel auf und wollte wieder Kieselsteine auflesen, wie er aber an die Türe kam, da hatte sie die Mutter zugeschlossen. Doch tröstete er die Gretel und sprach: „Schlaf nur, Gretel, der liebe Gott wird uns schon helfen.""


Hänsel kann diesmal keine Kieselsteine sammeln. Doch er versichert seiner Schwester, dass der liebe Gott ihnen schon helfen werde. Und tatsächlich schickt Gott dem jungen Knaben eine Eingebung: Er benutzt einfach Brotkrumen anstatt Kieselsteine!
Dann schickt Gott Tiere, die die Brotkrumen fressen und die beiden Kinder stehen verloren und brotlos im Wald.
Eigentlich ein wenig hinterfotzig vom lieben Gott, wenn ihr mich fragt...



ES WAR SO FINSTER UND AUCH SO BITTERKALT

Es sieht nicht gut aus für unsere kleinen Helden. Da Vögel die Brotkrumen fressen, mit denen Hänsel den Weg markiert hatte, finden die Kinder nicht mehr nach Hause. Und selbst wenn, hieße das höchstwahrscheinlich nur, am nächsten Tag erneut ausgesetzt zu werden...

"Der Mond ging auf, wie aber Hänsel nach den Bröcklein sah, da waren sie weg, die viel tausend Vöglein in dem Wald, die hatten sie gefunden und aufgepickt. 

Hänsel meinte doch den Weg nach Haus zu finden und zog die Gretel mit sich, aber sie verirrten sich bald in der großen Wildnis, und gingen die Nacht und den ganzen Tag, da schliefen sie vor Müdigkeit ein. 
Dann gingen sie noch einen Tag, aber kamen nicht aus den Wald heraus und waren so hungrig, denn sie hatten nichts zu essen als ein paar kleine Beeren, die auf der Erde standen."

Beeren sind natürlich nicht so toll wie, sagen wir mal, ein Haus aus Lebkuchen. Jedoch stellt sich die Frage, warum niemand aus der hungrigen Holzfällerfamilie auf die Idee kommt, mit der kompletten Sippe den ganzen Tag Beeren im Wald zu sammeln. Besser als Verhungern, so scheint es mir jedenfalls. Aber die Eltern hielten anscheinend es für klüger, ihre Kinder zum Sterben in den Wald zu bringen. Jeder nach seiner Facon...





SIE KAMEN AN EIN HÄUSCHEN

Die Kinder kommen an ein seltsames Lebkuchenhaus und denken sich nichts weiter dabei, außer dass sie hungrig sind. Da das Fressen vor der Moral kommt, verschwenden sie keinen Gedanken daran, dass ein solches seltsames Haus sicherlich auch einen Besitzer hat.

"Als sie am dritten Tage wieder bis zu Mittag gegangen waren, da kamen sie an ein Häuslein, das war ganz aus Brot gebaut und war mit Kuchen gedeckt, und die Fenster waren von hellem Zucker. 
„Da wollen wir uns niedersetzen und uns satt essen", sagte Hänsel; „ich will vom Dach essen, iss du vom Fenster, Gretel, das ist fein süß für dich.""


Die sehbehinderte Bewohnerin des Hauses, das Hänsel und Gretel gerade mutwillig zerstören, ruft aus dem Fenster und fragt, wer denn dort sei.
Clever antworten die Kinder "der Wind" und glauben damit offensichtlich, die Lebkuchenhausfrau getäuscht zu haben. Sicherlich verschwendet sie nun keinen Gedanken mehr daran, warum ihr Heim gerade aufgegessen wird. Natürlich, sprechender Wind! Ist ja nicht ungewöhnlich, zu der Jahreszeit!

"Wie nun Gretel an dem Zucker knusperte, rief drinnen eine feine Stimme:

„Knusper, knusper, Knäuschen!
„Wer knuspert an meinem Häuschen!"
Die Kinder antworteten:
„Der Wind! Der Wind!
„Das himmlische Kind!"

Und aßen weiter. "


Das mit dem Wind ist natürlich viel schlauer als einfach wie ein Trottel nichts zu sagen und zu hoffen, dass die Hexe glaubt, sich geirrt zu haben. Daher essen die Kinder einfach weiter und ziehen die Möglichkeit, dass ihre Täuschung vielleicht doch nicht funktionieren könnte, gar nicht erst in Erwägung. Die Frau fällt allerdings nicht auf das brillante Ablenkungsmanöver herein und kommt aus dem Haus heraus. Dies wird sich nicht unbedingt positiv auf die Zukunft der Kinder auswirken...

Ein wenig kann ich das nun folgende, hinterhältige Verhalten der Hexe allerdings verstehen. Wenn jemand mein Haus essen würde, wäre ich auch sauer. Fairerweise muss ich jedoch zugeben: Wenn ich ein Haus aus süßem Gebäck hätte, hätte ich es wahrscheinlich schon längst selbst verspeist.



KINDERTELLER

"Gretel brach sich eine ganze runde Fensterscheibe heraus und Hänsel riss sich ein großes Stück Kuchen vom Dach ab. Da ging die Türe auf und eine steinalte Frau kam heraus geschlichen. Hänsel und Gretel erschraken so gewaltig, dass sie fallen ließen, was sie in Händen hatten."





Zunächst wirkt die alte Frau noch freundlich und tischt den Kinder ein festliches Mahl auf. Oder nach unseren heutigen Maßstäben eine normale Zwischenmahlzeit.

"Die Alte aber wackelte mit dem Kopf, und sagte: „Ei, ihr lieben Kinder, wo seid ihr denn hergelaufen, kommt herein mit mir, ihr sollt es gut haben." 
Sie fasste beide an der Hand und führte sie in ihr Häuschen. Da ward gutes Essen aufgetragen, Milch und Pfannkuchen mit Zucker, Äpfel und Nüsse und dann wurden zwei schöne Bettlein bereitet, da legten sich Hänsel und Gretel hinein und meinten, sie waren im Himmel."

Komisch, deutsche Kinder glauben heutzutage selten, sie seien im Himmel, wenn sie genügend zu essen und ein Bett haben. Verwöhnte Gören!

Die Kinder schlafen, scheinbar in Sicherheit und wohl zum letzten mal ohne furchtbare Alpträume. Denn die nette alte Frau entpuppt sich als kinderfressende Hexe. Die Kinder lernen die Lektion, keine Süßigkeiten von Fremden anzunehmen, auf die harte Weise...

"Die Alte aber war eine böse Hexe, die lauerte den Kindern auf und hatte bloß um sie zu locken ihr Brodhäuslein gebaut und wenn eins in ihre Gewalt kam, da machte sie es tot, kochte es und aß es und das war ihr ein Festtag. Da war sie nun recht froh, wie Hänsel und Gretel ihr zugelaufen kamen."



I LIKE BIG BUTTS AND I CANNOT LIE

Während die Kinder schlafen, betrachtet die Hexe die beiden Kinder und freut sich über den leckeren Anblick. Schreibt euch das auf, Kinder, das kommt im Test vor.

"Früh, ehe sie noch erwacht waren, stand sie schon auf, ging an ihre Bettlein und wie sie die zwei so lieblich ruhen sah, freute sie sich und murmelte: „Das wird ein guter Bissen für mich sein!""


Die Hexe sperrt Hänsel in einen Käfig und macht Gretel zu ihrer Sklavin. Sie versucht, den Jungen zu mästen, doch leider kann sie den Erfolg ihres Projektes nicht optimal beobachten, da sie anscheinend schlagartig so sehbehindert geworden ist, dass sie nicht einmal die Silhouette eines Menschen erkennen kann.
Hänsel nutzt diese Schwäche, um die Hexe zu täuschen. Statt wie von der Hexe verlangt seine Finger zur Fettkontrolle herzuzeigen, streckt Hänsel einen kleinen Knochen heraus.

"Da ward nun alle Tage dem Hänsel das beste Essen gekocht, dass er fett werden sollte, Gretel aber bekam nichts als die Krebsschalen, und alle Tage kam die Alte und sagte: „Hänsel, streck deine Finger heraus, dass ich fühle, ob du fett genug bist." 
Hänsel streckte ihr aber immer ein Knöchlein heraus, da wunderte sie sich, dass er gar nicht zunehmen wollte."


Es wird gesagt, dass bei vielen Menschen, die ihre Sehkraft verloren haben, die anderen Sinne besonders ausgeprägt sind. Zumindest für den Tastsinn der beinahe blinden Hexe scheint dies nicht zuzutreffen, da sie nicht in der Lage ist, den Unterschied von menschlichem Fleisch und einem Knochen zu ertasten...
Warum bevorzugt die Hexe überhaupt fette Kinder? Ist nicht gewöhnlicherweise das Muskelfleisch das Beste an einem Braten, während man das Fett wegschmeißt? Oder ist das bei Menschenbraten anders? Ich muss gestehen, ich kenne mich nicht besonders gut aus mit der haute cuisine.
Die Hexe scheint Fett für unverzichtbar für ihr Festmahl zu halten, doch die ist ja zugegebenermaßen auch ein klein wenig seltsam. Aber wenn man sich dann schon mal die Mühe macht, ein Kind zu mästen: Ist ein Finger wirklich das beste Körperteil zum Ertasten, ob es bereits fettleibig ist?

Auch erschließt sich mir nicht vollständig, warum Hänsel sich überhaupt mästen lässt. Er hätte ja einfach normale Mengen essen können und den Rest wegschmeißen. Dann hätte er auch seinen echten Finger hervorzeigen können. So wäre das Risiko elimiert, dass das Täuschungsmanöver mit dem Knochen auffliegt. Aber die Aussicht, Essen in sich hineinzustopfen, bis man fett ist, scheint für Hänsel so verlockend, dass er die Gefahr erwischt zu werden in Kauf nimmt, und daher ignoriert Hänsel die wohlbekannte Volksweisheit, dass ein dünner Junge besser vor einer bösen Hexe wegrennen kann als ein sehr fetter.
Allerdings sollte man sowieso meinen, es sei nicht schwer, vor einer alten, fast blinden Frau wegzurennen, die - obwohl sie als Hexe bezeichnet wird - keine magischen Fähigkeiten zu besitzen scheint.





READY OR NOT, HERE I COME, YOU CAN'T HIDE

Die Hexe verliert nach einem Monat die Geduld und beschließt, Hänsel auch ungemästet zu verspeisen. Wie allgemeinhin bekannt, reicht man Kinderfleisch am Besten zu frisch gebackenem Brot und so befiehlt die Hexe Gretel, ein Feuer im Ofen anzumachen.

"Nach vier Wochen sagte sie eines Abends zu Gretel: „Sei flink, geh und trag Wasser herbei, dein Brüderchen mag nun fett sein oder nicht, morgen will ich es schlachten und sieden, ich will inzwischen den Teig anmachen, dass wir auch dazu backen können.""

Psychologisch gesehen ist es etwas ungeschickt von der Hexe, Gretel davon zu erzählen, dass sie morgen ihren Bruder töten will. Zuvor konnte sie das Mädchen mit der Drohung, Hänsel zu töten, zum Sklavendienst zwingen. Nun kann sie höchstens noch Gretel selbst bedrohen. Doch die hat nichts zu verlieren, wenn sie begriffen hat, dass sie so oder so im Kochtopf landen wird, ob sie gehorcht oder nicht.
Außerdem nimmt die Tatsache, dass die Hexe extrem kurzsichtig ist und die Kinder nicht einmal richtig sieht, wenn sie direkt vor ihr stehen, der alten Hexe auch etwas von ihrer Bedrohlichkeit.


"Gretel stand in der Küche, weinte blutige Tränen und dachte, hätten uns lieber die wilden Tiere im Walde gefressen, so wären wir zusammen gestorben, und müssten nun nicht das Herzeleid tragen, und ich müsste nicht selber das Wasser sieden, zu dem Tode meines lieben Bruders: „Du lieber Gott, hilf uns armen Kindern aus der Not!""

Gretel ist hoffnungslos und fleht Gott an, ihr und ihrem Bruder zu helfen. Wie immer hält der sich jedoch aus der Sache raus und wie immer liegt es an den Menschen, ihren eigenen Arsch zu retten. Besser gesagt an Gretel, denn ihr Bruder ist ja immer noch hilflos im Käfig. Gott unternimmt nichts, um ihn daraus zu befreien und schickt der Hexe auch keinen Schlaganfall oder etwas ähnliches schickt, um sie kampfunfähig zu machen - z.B. einen (Achtung!:) "Hexenschuss"...
Deshalb wartet Gretel zum Glück nicht mehr lange auf Hilfe von außen und nimmt die Sache in die eigenen Hände. Mit einem Trick bringt Gretel die Hexe dazu, sich in die Öffnung des Ofens zu setzten und schubst sie dann hinein und macht die Klappe zu.
Die Hexe ist schon ein bisschen selbst daran Schuld, auf diesen billigen Trick hereinzufallen, besonders da sie just in dem Moment eigentlich gerade vorhatte, dasselbe mit Gretel zu machen.

"Da setzte sich die Alte auf das Brett und weil sie leicht war, schob Gretel sie hinein, so weit es konnte, dann machte es geschwind die Türe zu und steckte den eisernen Riegel vor. Nun fing die Alte an in dem heißen Backofen zu schreien und zu jammern, Gretel aber lief fort, und sie musste elendiglich verbrennen."




Also keine Bange, liebe Kinder, alles ist gut: Die alte Frau verbrennt elendiglich bei lebendigem Leibe. Gretel befreit ihren Bruder und die beiden plündern die Reichtümer der Hexe und gehen nach Hause. So ist die Welt wieder in Ordnung.

"Das ganze Häuschen aber war voll von Edelsteinen und Perlen, damit füllten sie ihre Taschen, gingen fort und suchten den Weg nach Haus."



DING, DONG, THE WITCH IS DEAD

Um nach Hause zu kommen, reisen die Kinder zu Fuß und auf einer Teilstrecke auch auf einer Ente.
Echt, eine Ente? Warum zum Teufel hat man nicht einfach einen Schwan genommen? Das wäre ja noch halbwegs glaubhaft, dass ein kleines Kind auf einem Schwan sitzt, ohne den armen Kerl zu versenken und zu ertränken, aber eine Ente? Sollte man definitiv nicht zu Hause nachmachen.

"Sie kamen aber vor ein großes Wasser und konnten nicht hinüber. Da sah das Schwesterchen ein weißes Entchen hin und her schwimmen, dem rief es zu: „Ach, liebes Entchen, nimm uns auf deinen Rücken." Als das Entchen das hörte, kam es geschwommen, trug Gretel hinüber und hernach holte es auch Hänsel."



Gretel auf einer seltsamen Ente

So finden unsere kleinen Helden wieder nach Hause, wo ihr Vater auf sie wartet. Nicht aber die Mutter, die ist inzwischen tot - welch ein Glück!

"Danach fanden sie bald ihre Heimat. Der Vater freute sich herzlich, als er sie wieder sah, denn er hatte keinen vergnügten Tag gehabt, seit seine Kinder fort waren. Die Mutter aber war gestorben. Nun brachten die Kinder Reichtümer genug mit und sie brauchten für Essen und Trinken nicht mehr zu sorgen."



BIS AN IHR LEBENSENDE

Wie bei Märchen üblich, gibt es in "Hänsel und Gretel" ein Happy End: Durch die Wertsachen der Hexe ist die Familie nun reich genug, dass sie sich nie wieder um Essen Gedanken machen muss. Auch die böse Mutter (und in späteren Versionen die Stiefmutter) macht keinen Ärger mehr, da sie stirbt, bevor Hänsel und Gretel heimkehren. Nach den schrecklichen Dingen, die wir in dem Märchen erfahren, wirkt ein Happy End allerdings sehr konstruiert, finde ich.
Besser zum Rest würde ein etwas weniger optimistisches, aber historisch realistisches Ende passen. So wie beispielsweise dieses:


MARIOS ALTERNATIVES ENDE ZU "HÄNSEL UND GRETEL"

"Alle Bewohner des Dorfes waren erstaunt über den plötzlichen Reichtum des Holzfällers. Auch waren sie neidisch, weil ihre Kinder verhungern mussten, während Hänsel und Gretel immer fetter wurden. 

Doch eines Nachts kamen listige Diebe in das Haus des Holzfällers und stahlen die Schätze, welche Hänsel und Gretel von der Hexe gestohlen hatten. Und so waren sie wiederum arm und hungrig bis an ihr Lebensende.

Gretel starb eine Woche später elendiglich des Hungers. Hänsel musste nicht verhungern, da der Knabe zuvor von der schwarzen Pest hingerafft wurde. 
Der Holzfäller nahm sich daraufhin mit seiner Axt das Leben. Immerhin hatte er die durchschnittliche Lebenserwartung jener Tage (etwa 30) schon weit überschritten. 
Und wenn sie keine Zombies sind, verrotten sie in der Erde.

ENDE"



OH, WHAT A WORLD! WHAT A WORLD!

Traditionsgemäß wurden Märchen Kindern erzählt - was sich auch in der Titelwahl der Brüder Grimm für ihre Märchensammlung - "Kinder- und Hausmärchen" - wiederspiegelt.
Ist das noch zeitgerecht? Sollte man Kindern der guten alten Tradition zuliebe auch heute noch "Hänsel und Gretel" zum Einschlafen vorlesen?

Sicherlich gibt es heutzutage viele Kunstwerke, die noch sehr viel weniger dazu geeignet sind, kleine Kinder damit in das Reich der Träume zu schicken. Wenn man beispielsweise einen Fünfjährigen zwingt, nachts im Dunkeln alle Teile der "Saw"-Horrorfilmreihe hintereinander anzuschauen, kann der dann eventuell noch schlechter schlafen als nach "Hänsel und Gretel" und liegt die ganze Nacht wach und fragt sich zitternd und ungläubig, warum er in einer Welt leben muss, in der Menschen Geld ausgeben, um freiwillig solche miese Filme zu sehen.

Andererseits folgt das Märchen "Hänsel und Gretel" nicht unbedingt unseren heutigen Regeln für kindgerechte Unterhaltung. Wäre "Hänsel und Gretel" ein klassischer Disney-Kinderzeichentrickfilm, wäre sicherlich einiges anders.
Erst einmal würde die Holzfällerfamilie ihre Kinder entweder unabsichtlich oder durch einen bösen Zauber verlieren - nicht aber kalkuliert dem sicheren Tod übergeben. Es sei denn, es wären nicht die wirklichen Eltern der Kinder, welche Gretel und Hänsel in dem Fall am Ende der Geschichte wiederfinden würden. Wahrscheinlich wären die Kinder die lang verschollenen Nachkommen des Königs und als Säuglinge aufgrund eines bösen Zaubers der Lebkuchenhexe von ihren wahren Eltern getrennt worden.

Auch gilt die Faustregel, dass bei Familienunterhaltung keine Unschuldigen sterben, höchstens als ultimatives Oper oder ähnliches. In keinem Fall sollten allerdings Kinder getötet werden, egal aus welchem Grund.
In der modernen Version würde die Hexe wahrscheinlich nicht elendiglich bei lebendigem Leibe verbrennen, sondern in eine schwarze Wolke verpuffen, oder zu Brei zerschmelzen, damit man sieht, dass die Hexe kein echter Mensch ist, sondern eine Art Dämon. Wahrscheinlich hat die Hexe die Seelen (oder die Lebensenergie oder ähnlichen Quatsch) von den vor Beginn des Märchens gefressenen Kindern als Nebelschwaden oder glühwürmchenartige Lichter in einem Glas gefangen. Und nach dem Hinscheiden der Hexe befreien Hänsel und Gretel die früheren Opfer der Hexe, die dann plötzlich auf magische Weise wieder zum Leben erwachen.

Die Ente, die am Schluss des Märchens auftaucht und die Kinder über das Wasser bringt, sollte ständig freche, sarkastische Sprüche bringen und vielleicht schon seit dem Beginn der Geschichte als Sidekick die spannenden Abenteuer der Märchenkinder begleiten und dabei mit ihrem frechen Mundwerk und ihrer Trotteligkeit für Lacher in der sonst düsteren Story sorgen.

Brauche ich zu erwähnen, dass die Protagonisten alle paar Minuten spontan aber dennoch synchron ein Lied anstimmen und dazu tanzen?

Also, ich würd's mir anschauen...



BABY, BABY, IT'S A WILD WORLD

Das Märchen hat also Elemente, die für moderne, an Kinder gerichtete Werke heute eher tabu sind. Doch werden Kinder durch das Vorlesen des klassischen Märchens von Hänsel und Gretel automatisch später spontan zu Kettensägen schwingenden Massenmördern? Man sollte davon ausgehen.
Okay, vielleicht auch nicht... Trotzdem wäre es ebenso vorschnell anzunehmen, Geschichten, die man seinen Kindern vorliest, hätten nicht den geringsten Einfluss aus sie.

Heutzutage schirmt man gerne Kinder vor der brutalen Realität ab und baut ihnen ein magisches Fantasieland mit ausgedachten Figuren wie dem Weihnachtsmann, dem Osterhasen oder Jesus.
Die Wirklichkeit, vor der die Kleinen beschützt werden sollen ist, dass die Welt nicht perfekt ist, kein Schlaraffenland für jedermann - auch wenn es unseren mittelalterlichen Vorfahren wahrscheinlich so vorgekommen wäre.

Die Kinder, denen im Mittelalter die Geschichte von Hänsel und Gretel vorgelesen wurden, hatten selten ein unbeschwertes Leben und generell wenig Möglichkeiten, sich davon abzulenken. Es gab ja noch kein Internet und kein Fernsehen. Nur Bücher - die aber ziemlich nutzlos sind, zumindest wenn man wie die meisten Leute damals nicht lesen kann.

Hunger, Krankheit und Tod begleiteten unsere Vorfahren wie selbstverständlich in ihrem Alltagsleben von klein auf. Vor unserem Nachwuchs werden solche Dinge oft geheimgehalten.
Verweichlicht man dadurch seine Kinder? Mag sein. Aber sind nicht weiche, mit Cheeseburgern gemästete Kinder in einer friedlichen Gesellschaft besser als abgehärtete Kinder, die niemals etwas anderes als Krieg und Hunger erlebt haben?
Wie wir in "Hänsel und Gretel" lernen ist die Antwort darauf: Definitv! Die dicken Kinder sind tatsächlich viel leckerer!



GOTT SEI DANK

Die moralische Botschaft, die das Märchen "Hänsel und Gretel" eigentlich vermitteln soll, ist wohl, dass Gott den Kindern immer beisteht und ihnen dadurch nichts passiert und sie zum Schluss der Story für ihr Leiden reich belohnt werden. An mehreren Stellen bitten Hänsel und Gretel Gott um Hilfe. Wie im Christentum üblich, ist Gott am Ende für alles Gute persönlich verantwortlich. Ausdrücklich wird beispielsweise erwähnt, dass der Trick, mit dem die Hexe letztendlich besiegt werden kann, nicht von Gretel stammt, sondern ihr von Gott eingegeben wurde.

"Da rief die Alte: „Gretel, komm gleich hierher zu dem Backofen." 
Wie Gretel kam, sagte sie: „Guck hinein, ob das Brot schon hübsch braun und gar ist, meine Augen sind schwach, ich kann nicht so weit sehen und wenn du auch nicht kannst, so setz dich auf das Brett, so will ich dich hinein schieben, da kannst du darin herumgehen und nachsehen." 

Wenn aber Gretel darin war, da wollte sie zumachen, Gretel sollte in dem heißen Ofen backen und sie wollte es auch aufessen: Das dachte die böse Hexe und darum hatte sie Gretel gerufen. 

Gott gab es aber dem Mädchen ein, dass es sprach: „Ich weiß nicht, wie ich das anfangen soll, zeige mir es erst und setz dich auf, ich will dich hinein schieben." 

Da setzte sich die Alte auf das Brett und weil sie leicht war, schob Gretel sie hinein, so weit es konnte, dann machte es geschwind die Türe zu und steckte den eisernen Riegel vor."




Logischerweise kann der liebe Gott natürlich nichts für die schlechten Dinge wie verhungernde Kinder oder eine unbehelligt dem Kannibalismus fröhnende Hexe - die, wie es im Märchen eindeutig gesagt wird, vor dem Erscheinen von Hänsel und Gretel bereits mehrere Kinder ermordet und gegessen hat. Was sollte der allmächtige Gott dagegen schon ausrichten?



SWEET CHILD O' MINE

Wenn man die Geschichte mal objektiv betrachtet, vermittelt sie ganz andere moralische Botschaften und die sind nicht unbedingt uneingeschränkt empfehlenswert für kleine Kinder.
Uns wird vermittelt, dass das Töten der Hexe die moralische beste Lösung des Hänsel-und-Gretel-Dilemmas war - von Gott persönlich eingegeben. Aber hätte der Gretel nicht auch eingeben können, irgendwann während der vierwöchigen Gefangenschaft der praktisch blinden Hexe den Schlüssel für Hänsels Käfig zu klauen? Würden die Kinder einfach flüchten, während die Hexe schläft, würde die sie doch niemals wieder finden. Aber Gott weiß: Gewalt ist immer die beste Methode.

Man könnte vielleicht meinen, die Hexe habe ihr grausames Schicksal im Ofen redlich verdient und sollte niemals wieder Kinder fressen dürfen. Aber warum war dies anscheinend bei den Vorgängern von Hänsel und Gretel, die von der Hexe verspeist wurden und über die niemand jemals ein Märchen geschrieben hat, nicht so? Warum hat Gott denen keinen Fluchtplan eingegeben?
Da ich ein weiches Herz habe und Mitleid mit diesen unbesungenen Helden, habe ich selbst ein kleines, zugegeben leicht düsteres Märchen zu ihren Ehren geschrieben.


DAS MÄRCHEN VON HUBERT UND GETRUDE

"Eines Tages wurden zwei Kinder namens Hubert und Gertrude von ihren Eltern im Wald ausgesetzt, da die Familie nichts als ein halbes Laib Brot zu Essen hatten. 
So irrten die Kinder nachts durch den Wald und fürchteten sich. Doch plötzlich kamen sie aber an ein Haus, das war ganz aus Pfefferkuchen. Da ließen sich die beiden nieder, um von dem Haus zu essen.

Während sie so speisten, ward eine Stimme aus dem Häuschen zu hören:
"Knusper- Knusper- Knäuschen
Wer knuspert an meinem Häuschen?"

Die Kinder antworteten:
"Äh... niemand."
Und aßen weiter.

Später kam jedoch eine alte Frau aus dem Häuschen heraus und stellte sich freundlich. Sie lud die Kinder zu einem prächtigen Mahl ein. 
Doch sie war in Wirklichkeit eine hinterlistige Hexe und wollte die Kinder auffressen!

Sie schmeckten der Hexe gar köstlich.

ENDE"







WER HAT DAS HIER AUSGEHECKT? WER HAT WEN HIER SO ERSCHRECKT?
WISST IHR, WER DAHINTER STECKT?

Die vielleicht interessanteste Figur des Märchens ist die Hexe. Obwohl die Hänsel-und-Gretel-Hexe zu den bekanntesten ihres Berufsstandes gehört, besitzt sie keine der typischen Eigenschaften, die wir in der Regel mit dem Begriff "Hexe" verbinden: Sie kann nicht fliegen, weder mit einem Besen, noch mit irgend einem anderen Gegenstand  - okay, außer vielleicht einem Flugzeug.
Auch sonst wendet sie während des gesamten Märchens niemals Magie an und hat auch keine übernatürlich stark ausgeprägten Sinne oder ähnliches, eher im Gegenteil.
Die Frau wird als Hexe bezeichnet, beschrieben aber als eine wahnsinnige, einsame alte Frau, die allein im Wald in einem Pfefferkuchenhaus wohnt und sich von Menschenfleisch ernährt. Vielleicht wäre eine Psychotherapie für die betagte Dame hilfreicher als elendiglich verbrennen, aber ich bin da kein Experte.

Durch die negative Darstellung der Hexe wird aber nicht nur die Reputation der ausgedachten Märchenfigur "Hexe" in den Schmutz gezogen - was ja an sich schon schlimm genug wäre. Echte Menschen mussten deswegen leiden und sterben.

Der Glaube an Menschen mit magischen Kräften ist überall auf der Welt zu allen Zeiten in irgendeiner Form anzutreffen. Als sich vor Jahrhunderten Menschen zum ersten mal das Märchen von Hänsel und Gretel erzählten, glaubten viele davon noch an tatsächliche Hexen.
Die Bibel erwähnt Hexen nur nebenbei in einer ihrer zahlreichen Listen von Leuten, die man töten soll: "Die Zauberinnen sollst du nicht leben lassen" heißt es im Buch Exodus (22:17). Im Kontrast zu dem üblichen Brauchtum der Hexenverbrennung schreibt die Bibel allerdings eigentlich klar die Steinigung als Hinrichtungsmethode vor (Levitikus 20:27).

Die spezifischen Vorstellungen von Hexen als auf Besen reitende, Walpurgisnacht feiernde, in einem satanischen Geheimbund versammelte alte, buckelige Frauen mit Warzen und schwarzen Katzen: - davon ist nichts in der Bibel zu finden. Dieses Hexenbild stammt aus einem mittelalterlichen Volksglauben, den das Märchen von Gretel und Hänsel wiederspiegelt.

Interessanterweise war die Kirche im Mittelalter prinzipiell eher gegen Hexenverfolgungen, da die im Volk beliebten Theorien über Hexen wie gesagt nicht aus der christlichen Mythologie stammen, sondern aus einem deutschen Volksglauben, welcher eventuell Wurzeln in den Mythen der alten germanischen Religion hat.
Um die Hexenverfolgung zu unterbinden, erfand die Kirche Hexenschnelltests. Zum Beispiel warf man Frauen in einen Fluss und schaute, ob sie auf der Wasseroberfläche schweben konnten. Diese Proben waren eine sehr gute Sache für die Frauen, sofern sie tatsächlich keine Hexen waren: Anders als oft dargestellt wurden die Frauen, die untergingen und somit den Test bestanden hatten, auch wieder aus dem Wasser gefischt - und zwar bevor sie ertrunken waren.

Die Kirche war zu dieser Zeit in Hexenangelegenheiten relativ rational und skeptisch, kaum zu glauben. Wenn etwas schief ging, wurden im ungebildeten und abergläubischen Volk Hexen oft als Sündenböcke missbraucht. Doch die weisen Männer der Kirche wussten natürlich, dass Gott zu dem Zweck die Juden erfunden hat.



DIE ZAUBERINNEN SOLLST DU NICHT LEBEN LASSEN

Die Hexenjagd im Mittelalter ging also zunächst nicht von der Kirche aus: Die ließ zwar öfters Juden hinrichten, die prinzipiell an Unglücken wie Missernten oder Seuchen Schuld waren, nicht aber Hexen. Dies änderten sich zum Ende des Mittelalters hin, als die Hexenverfolgungen im großen Maßstab erst richtig begannen und nun von der Kirche unterstützt wurden.



Offensichtlich waren die Hexenprozesse erfolgreich: Die Tatsache, dass es heute keine Hexen gibt, beweist dies ja eindeutig. Doch sie waren auch unvorstellbar grausam: Bevor die Frauen (ab und zu auch Männer) bei lebendigem Leib verbrannt wurden, wurden sie grausam gefoltert. Folter wurde von höchster kirchlicher Stelle nicht nur toleriert, sondern für das einzige verlässliche Mittel zur Wahrheitsfindung gehalten.
Unter Folter wurden dann Geständnisse erpresst und das Nennen von angeblichen Komplizen erzwungen. Tausende Leute starben als Hexen bis weit ins 18. Jahrhundert auf der ganzen Welt. Die allermeisten aber in Deutschland. Von ca. 12.000 bekannten Hexenhinrichtungen sind über 8.000 in Deutschland vollstreckt worden. Dies sind nur allerdings die heute noch erhaltenen dokumentierten Fälle - die Zahl der tatsächlichen Todesopfer dürfte weitaus größer sein.
Warum die Deutschen so besonders brutal vorgegangen sind, kann ich nicht sagen. Vielleicht hatten sie gehofft, den Preis für die furchtbarsten Menschen der Welt zu gewinnen. Das machen sie öfters mal.

Für mich persönlich ist der wahre Horror von Hänsel und Gretel nicht, dass darin eine Hexe in einem Ofen verbrannt wird, sondern vielmehr dass es von Menschen stammt, die im wirklichen Leben Frauen bei lebendigem Leib verbrannt haben.
Das Grausamste daran ist nicht das Fehlen von moralischen Prinzipien, sondern dass diese Leute, während sie andere Menschen gefoltert und ermordet haben, die ganze Zeit felsenfest davon überzeugt waren, die Guten zu sein und ein gerechtes Werk zu tun, die Welt für alle anständigen Bürger und unsere Nachkommen zu einem besseren Ort zu machen und dem lieben Gott zu dienen.
Es gibt wohl kaum etwas Gefährlicheres auf der Welt, als Menschen die für eine "gute Sache" kämpfen und ihre Gewalt als grausam, aber notwendig verteidigen und sie dann in Geschichten  verherrlichen und weiter rechtfertigen. So erfahren ihre noch ihre Nachkommen von ihren Heldentaten und der Gerechtigkeit ihres Anliegens, ohne sich dessen wirklich bewusst zu werden.

In "Hänsel und Gretel" wird nicht gesagt, warum die Hexe böse ist. Der einzige Grund scheint zu sein, dass sie eine Hexe ist. Hexen sind halt immer so, das weiß doch jedes Kind. Diesem Pack sollte man nie trauen, ganz besonders wenn sie eigentlich total nett zu sein scheint.
Wir lernen: Es gibt einfach Kreaturen, die von Geburt an böse sind und die man auch nicht zum Guten bekehren kann, selbst wenn Gott mit auf deiner Seite ist. Der einzige Weg, mit solchen Wesen umzukehren, ist sie gewaltsam dem gerechten Schicksal des Todes zuzuführen.
Vielleicht sollte man sich nicht fragen, ob man Kindern heutzutage das Märchen von "Hänsel und Gretel" vorlesen sollte - sondern, ob man es überhaupt je einem Kind hätte erzählen sollen.



GENDER BENDER

Aber es war nicht alles schlecht damals bei "Hänsel und Gretel". Positiv fällt zum Beispiel die Rolle der Gretel auf. Zu Beginn des Märchens verhält sie sich ganz so, wie sich ein Mädchen eben so zu verhalten hat: Sie gehorcht unterwürfig den Männern. Und wo bringt sie das hin? Ihr Vater setzt sie im Wald aus; Ihr Bruder versichert ihr, er werde die beiden schon wieder nach Hause bringen, woraufhin er die einzige Nahrung der verlaufenden Kinder verplempert und trotzdem den Weg nicht kennt. Und als die Kinder an das Hexenhaus kommen, ist es Hänsel, der seine Schwester im Befehlston dazu anhält, das Haus sofort aufzuessen, anstatt vorher aus sicherer Entfernung die Lage vernünftig einzuschätzen.

Wie von ihr verlangt hat Gretel sich immer auf Männer verlassen, was ihr einen ungeliebten Job als Sklavin einer kannibalistischen Hexe eingebracht hat. Schließlich ist es Gretel, die ganz allein handeln muss, um ihrem fetten Bruder den Arsch zu retten, der mit seinem Knochen im Käfig sitzt und sich für besonders schlau und unbesiegbar hält.
Auch ist es Gretel und nicht ihr Bruder, die die Ente dazu überredet, die Kinder über das Wasser zu kutschieren.
Letztendlich ist also ein kleines Mädchen der Held der Geschichte - eine willkommene Abweichung von üblichen Geschlechterklischees.

Ebenso verdreht sind die Rollen des Holzfällers und seiner Frau. Klassischerweise werden Frauen als eher emotional und Männer als eher rational dargestellt.
In "Hänsel und Gretel" ist aber der Vater emotionaler und die Mutter trifft die harte Entscheidung, ihre eigenen Kinder wegzuschicken (und in der Originalversion sind es ihre leiblichen Kinder) um nicht zu sterben. Der Vater ist eigentlich dagegen, muss als Mann aber natürlich den Befehlen seiner Frau Folge leisten.
In vielen Märchen lieben Mütter ihre Kinder immer und bedingungslos und würden ihr Leben für sie geben. Oft sind sie aber bereits tot und der Vater ihrer Kinder hat bei der Wahl seiner zweiten Frau ein wenig glückliches Händchen bewiesen und heiratet die stereotype böse Stiefmutter, die ihre Stiefkinder furchtbar behandelt. Aber selbst die liebt ihre eigenen Kinder (siehe z.B. "Aschenputtel" oder "Frau Holle")
In dieser Hinsicht ist die ursprüngliche Fassung von "Hänsel und Gretel" recht außergewöhnlich: Immerhin ist hier das happy end, dass die Mutter endlich gestorben ist...



EIN LAND, DARIN MILCH UND HONIG FLIESST

Für heutige Verhältnisse wirkt "Hänsel und Gretel" vielleicht übertrieben grausam, doch dies wird verständlich, wenn man sich vor Augen führt, dass seine Erfinder in einer grausameren Periode der Zeitgeschichte als wir wohnten - nämlich der Vergangenheit.
Auf die meisten von uns mag die Vorstellung, dass Eltern ihre Kinder zum Sterben im Wald aussetzen, da sie sie nicht ernähren können, genauso unwirklich und unglaubhaft wirken wie die Existenz einer in einem Lebkuchenhaus wohnenden Hexe.
Doch für viele unserer Vorfahren war Hunger etwas ganz Alltägliches. Besonders schlimm war es bei Missernten wie der großen Hungersnot von 1315-1317. In solchen Ausnahmesituationen kam es durchaus vor, dass Eltern so verzweifelt waren, dass sie ihre Kinder im Wald zurückließen oder sogar verspeisten.

Und so hängt es davon ab, wann man geboren wurde, ob man findet, dass "Hänsel und Gretel" eine grausame Geschichte ist oder nicht. Aus heutiger Sicht erleben Hänsel und Gretel furchtbare, verstörende Dinge, die kein Mensch - und besonders kein Kind - jemals erleben sollte und jeden von uns wahrscheinlich lebenslang traumatisieren würden.
Für damalige Erzähler war "Hänsel und Gretel" eine wahrhaft märchenhafte Story - im Sinne von "zu schön, um wahr zu sein". Schließlich leben Hänsel und Gretel vom Schluss des Märchens bis an ihr Lebensende ohne Hunger.

Die Lektüre des Märchens kann uns dazu dienen, uns einmal bewusst zu machen, wie ungewöhnlich es ist, in einer Gesellschaft zu wohnen, in der die allermeisten Menschen essen können soviel sie wollen und was sie wollen.
Vielleicht sollten wir einen Moment innehalten und uns vor Augen führen, dass wir einer Märchenwelt leben - anders als unsere Vorfahren und viele unserer Zeitgenossen, die das Pech hatten, nicht in der westlichen Welt geboren zu werden. Wenigstens für einen Augenblick, bevor man sich weiter selbst bemitleidet, weil man nicht das neuste Smartphone besitzt, sondern nur die vor-vorletzte Version von vor 3 Monaten. Kinder in Afrika wären froh, wenn sie Telefone zu essen hätten, ganz egal welches Baujahr!

Deutsche Kinder kannten allerdings sehr oft auch Armut und Hunger, wenn sie das Pech hatten, vor den 1950ern geboren worden zu sein - was wir Historiker in Hinblick auf die Länge der gesamten Menschheitsgeschichte in der Fachsprache "meistens" nennen.






[PS:
Noch nicht genug von Hänsel und Gretel? Dann verpasst nicht: "Hänsel&Gretel - Witchhunters 3D", 2013 im Kino!

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Nein, ich wünschte, es wäre so, aber das ist kein Witz. Hier ist der Trailer...]



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MARIOS MÄRCHENSTUNDE

>>Teil 1: "Fressen und gefressen werden"
 Teil 2: "Sieben auf einen Streich"